2022
2019
2016
2014

Ich wurde 1971 geboren. Gestern, im Gespräch mit meiner Tochter, ging es um Tiramisu, und mir kam dieser Song in den Kopf, „Ti-ra, Ti-ra-mi-su-su-su“, Mitte der Achtziger, Roberto Blanco, und ich sang ihn ihr vor und sagte: „Weißt du, ich war schon geboren, da kannte man Tiramisu in Deutschland noch nicht“, und sie seufzte ein bisschen, und ich sagte: „Sorry, Omama erzählt vom Krieg“ – weil man das Mitte der Achtziger Jahre so gesagt hat, wenn Fünfzigjährige Jugenderinnerungen teilten – und da sah sie mich an und meinte: „Falscher Spruch, den werde ich dann sagen.“ Und dann schwiegen wir.
Als ich Kind war, sang Roberto Blanco im Fernsehen bei Thomas Gottschalk, der in seiner Ankündigung immer einen rassistischen Witz machen musste, ich denke, er konnte nicht anders, er merkte’s nicht mal. Wer dahin zurückwill, in diese Art von angeblich kuschliger Normalität – es will mir nicht in den Kopf. Andererseits will mir auch nicht in den Kopf, dass bei uns heute jedes Familienmitglied sein eigenes Programm sieht, fünf Leute, fünf Endgeräte, null Austausch. Also lass ich mir die besten Witze vorführen, Louisa Masciullo auf Tiktok, wie brillant ist das. Nimmt sie das wirklich mit dem Handy auf? Alleine?
Als ich zur Schule ging, gab’s noch Telefonzellen. Irgendwann mit Karte, das war ganz praktisch. Wie es in so einer Telefonzelle roch, werde ich niemals vergessen. Es gab auch Walkmen, aber die Batterien hielten nicht lange. Batterien waren außerdem böse, weil umweltschädlich. Heute gelten andere Sachen als umweltschädlich, Wegwerfbecher. Als ich klein war, trank man noch nicht im Gehen. Warum auch?
Seit dreißig Jahren bin ich jetzt erwachsen.
1990 war ich mit meiner Stuttgarter Freien Gruppe zum Theatertreffen der Jugend eingeladen, ins heutige Haus der Kulturen der Welt. Weil gerade Wende gewesen war, gab’s auch eine Gruppe aus Ostberlin, vom Jugendclub International. Die machten richtiges Theater mit Deklamieren und bauschigen Hemden, und ihr Spielleiter stand ziemlich unter Strom. Unsere Spielleiterin fand den Körpertheatertypen aus Holland interessanter. Ich wollte gerne wissen, was und wie’s im Osten war. Ich zog hin. Erst nach Ostberlin, später dann nach Leipzig.
2001 war ich mit dem Studium fertig und hatte ein Aufenthaltsstipendium in Wiepersdorf. Ich war fast dreißig und in einem Künstlerhaus, hatte wenig Ahnung, wie’s weitergehen könnte. Ich wollte Familie und Karriere, wie sollte ich das anstellen, erstmal schreiben, klar, wozu sonst hatte ich das dreieinhalb Jahre lang studiert. Dann veröffentlichen. Leute kennenlernen, Kontakte pflegen und neu knüpfen, mich verlieben, jemanden in mich verliebt machen – für all das kann so ein Aufenthaltsstipendium nützlich sein. Und Geld gab es auch. Zweitausend Mark pro Monat. Soviel hatte ich noch nie gehabt. Aber was dann? Gleich zum nächsten aufbrechen?
Im Rückblick scheint die Zeit kurz, von oben sieht ein Durcheinander vielleicht ganz schön aus und mit Abstand ergibt sich sogar ein Bild. Mittendrin ist es völlig anders.
Zum Altwerden gehört dazu, sich auch an das zu erinnern, was mal galt. Niemals Papiertaschentücher auf die Erde werfen! zum Beispiel, als ich ungefähr acht war. Weil Vögel sie dann zum Nestbau nutzen, und ein Nest aus Zellstoff hält nicht lange. Ist gefährlich. Für den Nachwuchs, der noch nicht fliegen kann.

Ich wurde in Ulm geboren, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war damals, neunzehnhunderteinundsiebzig, noch sehr sehr klein.
Wie Stuttgart war, weiß ich. Wie es für mich war, zumindest, in der Robert-Leicht-Straße.
Robert Leicht war Brauereidirektor, und als ich Kind war, roch Stuttgart-Vaihingen tatsächlich noch nach Hefe manchen Tags. Anderntags auch nach Maracuja, wegen der Fruchtsaftfabrik.
Gerüche und zu wissen, wie’s für einen selbst war, ist gut für die Prosa. Die Vita will Fakten. Die kriegt sie auch.
Fakten tun so, als seien sie nicht auslegbar, entwickelten kein Eigenleben im Kopf desjenigen, der sie liest.
Abitur und Umzug nach Berlin. Ha! Wenn das nicht offen für Interpretationen ist – neunzehnhunderteinundneunzig zumal. Ich wohnte in Charlottenburg und trotzdem – ja, auch da! – roch es neu und fremd für mich nach Braunkohle.
Studium am Literaturinstitut in Leipzig. Ein Ausflug mit den Professoren Hartinger und Haslinger zur Braunkohleabbruchkante nahe Liebertwolkwitz. Was wir da wollten? Gucken, schätz ich mal.
Ich bin oft umgezogen. Auch geflohen oder genötigt worden. Einmal wurde über Nacht ein nichtgenehmigtes Badezimmerfenster von außen zugemauert – was nicht so schlimm war, ich kannte fensterlose Bäder.
Eine Vita anhand der Badezimmer – oder auch der nicht vorhandenen Badezimmer – erzählen. Anhand der Heizungen, Vorhangstangen, Treppenhausgeländer. Entlang der Such- und Flucht- und Abbruchbewegungen, wäre das was?
Keiner war je da, wo er herkam oder hingehörte, Heimat, Herkunft, Zugehörigkeit gab’s trotzdem. Bali sieht aus wie die Schwäbische Alb.
Meine Kinder sind alle in Berlin-Kreuzberg geboren. Meine Eltern – als meine Eltern – kamen auch von dort, aus der Mariannenstraße. Drei, vier Fotos gibt’s noch, auf ihnen erkenne ich meine Eltern allerdings nicht wieder. Eltern erkennt man – so hat’s die Natur wohl eingerichtet – in den ersten paar Wochen allein am Geruch.
Und Kreuzberg ist weit offen für Interpretationen!
„Du verpasst es, und ich auch“, hat mein Vater später in Stuttgart in einem Gedicht geschrieben. Eine Vita anhand dessen schreiben, was man auf keinen Fall verpasst haben will?
Neunzehnhundertfünfundneunzig stand ich mit József, meinem damaligen Freund, auf einem abschüssigen Grundstück in Südungarn. Es war seines, er hatte es sich verdient, indem er Bücher verkauft hat vor der FU. Darauf ein Haus bauen!, ich war nicht mehr dabei, als er’s schließlich getan hat.
Ich bin Schriftstellerin geworden. Klingt komisch in meinen Ohren, ist aber Fakt. Es gibt ein Diplom, eine Liste von Veröffentlichungen, jährliche Steuerbescheide. Stipendien und Preise. Leser*innenreaktion. Oh ja!, es gibt ein Werk. Ganz weit offen für Interpretationen.
Wo ich momentan wohne, wird sechs Tage die Woche von früh morgens an gebaut.

Ich wurde 1971 in Ulm an der Donau geboren, aber ich komme nicht von dort; es hatte meine Eltern nur kurzzeitig dahin verschlagen. Aufgewachsen bin ich in Stuttgart. Nach dem Abitur 1991 bin ich nach Berlin gezogen und habe dort begonnen, mich mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden. Kunst und Leben neben den Institutionen – bis auf das ‚Trend-Studio‘, ein Marktforschungsinstitut, in dem ich Geld verdient habe. Irgendwann sind dann aber doch alle an irgendwelche Kunsthochschulen oder Universitäten gegangen, also bin ich nach Leipzig ans Literaturinstitut und habe dort von 1997-2001 studiert. Leipzig fand ich noch viel besser als Berlin – vermutlich deshalb, weil sich die Stadt mit dem, was ich tat, ganz direkt verband: durch das DLL, die Buchmesse, das Ilses Erika, die billigen Wohnungen. Es war toll, mittendrin zu sein; ich habe Bafög bezogen und musste nicht mehr jobben.
2002 bin ich aber zurück nach Berlin; ich war schwanger und fand, dass das Kind in der Hauptstadt aufwachsen muss. Nein, falsch: dass Provinz plus Elternschaft dann doch eins zuviel ist. Wenn schon unbeweglich, dann wenigstens da, wo alle sind –
Inzwischen war ich Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer, hatte die ersten Bücher veröffentlicht und Vorschüsse erhalten. Habe dann noch einen Preis gewonnen und ein Stipendium vom Senat gekriegt; Aufenthaltsstipendien gingen nicht mehr mit Familie.
Die wurde größer, noch ein Kind, dann noch eins. Ich habe geheiratet und mit einer Genossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg gebaut. Das Geld für die Einlage hat meine Mutter ursprünglich für ihre dritten Zähne gespart, die sie dann nicht mehr brauchte.
Seit 2001 lebe ich vom Schreiben, Prosa und Drehbuch, und die Kinder kriegen Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
2013 habe ich zum ersten Mal unterrichtet, am Literaturinstitut in Leipzig und an der Filmakademie in Ludwigsburg.
Es gab in diesen fünfzehn Jahren, in denen ich Schriftstellerin bin, sehr unterschiedliche Phasen. Im Rückblick war die Zeit, als kein Verlag ‚Bodentiefe Fenster‘ geschweige denn ‚Fürsorge‘ drucken wollte, eine Durststrecke. Eine Talsohle? Eine Lektion! Rückblickend kann ich sagen, gut so, ich weiß jetzt, dass ich wirklich schreiben will und es auch unabhängig von Markt und Mechanismus tun kann; aber ich hüte mich, so was wie Dankbarkeit zu empfinden. Dafür war es währenddessen zu übel. Und Erfolg und Aufmerksamkeit haben natürlich ebenfalls ihre Schattenseiten! Zwar reden plötzlich Fremde mit einem, dafür Bekannte nicht mehr, und das Einkommen übersteigt die Bemessungsgrenze fürs BuT, sodass nach Zahlung des Lehrmittelfonds, der Klassenfahrten und Klavierstunden weniger übrigbleibt als vorher. Aber ich hüte mich, mich darüber zu beschweren. Dafür ist es allemal zu gut.

Ich wurde 1971 in Ulm an der Donau geboren, aber ich komme nicht von dort; es hatte meine Eltern nur kurzzeitig dahin verschlagen. Aufgewachsen bin ich in Stuttgart. Nach dem Abitur 1991 bin ich nach Berlin gezogen und habe dort begonnen, mich mit Freunden und Freundinnen selbst auszubilden. Kunst und Leben neben den Institutionen – bis auf das ‚Trend-Studio‘, ein Marktforschungsinstitut, in dem ich Geld verdient habe. Irgendwann sind dann aber doch alle an irgendwelche Kunsthochschulen oder Universitäten gegangen, also bin ich nach Leipzig ans Literaturinstitut und habe dort von 1997-2001 studiert. Leipzig fand ich noch viel besser als Berlin – vermutlich deshalb, weil sich die Stadt mit dem, was ich tat, ganz direkt verband: durch das DLL, die Buchmesse, das Ilses Erika, die billigen Wohnungen. Es war toll, mittendrin zu sein; ich habe Bafög bezogen und musste nicht mehr jobben.
2002 bin ich aber zurück nach Berlin; ich war schwanger und fand, dass das Kind in der Hauptstadt aufwachsen muss. Nein, falsch: dass Provinz plus Elternschaft dann doch eins zuviel ist. Wenn schon unbeweglich, dann wenigstens da, wo alle sind –
Inzwischen war ich Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer, hatte die ersten Bücher veröffentlicht und Vorschüsse erhalten. Habe dann noch einen Preis gewonnen und ein Stipendium vom Senat gekriegt; Aufenthaltsstipendien gingen nicht mehr mit Familie.
Die wurde größer, noch ein Kind, dann noch eins. Ich habe geheiratet und mit einer Genossenschaft ein Haus in Prenzlauer Berg gebaut. Das Geld für die Einlage hat meine Mutter ursprünglich für ihre dritten Zähne gespart, die sie dann nicht mehr brauchte.
Seit 2001 lebe ich vom Schreiben, Prosa und Drehbuch, und die Kinder kriegen Geld aus dem Bildungs- und Teilhabepaket.
2013 habe ich zum ersten Mal unterrichtet, am Literaturinstitut in Leipzig und an der Filmakademie in Ludwigsburg.

Verlag der Autoren
Dr. Sebastian Richter
Tel: 069/ 238574 - 33
richter[at]verlagderautoren.de
verlagderautoren.de

DERARTIGE DINGE

Roman-Manuskript

Der Wohnzimmerschrank. Der Bastrock. Die Liebe. Der Hermèshals.

Schäfchen im Trockenen

Drehbuch, 2022, Neue Schönhauser Filmproduktion, gefördert von der FFA
https://neueschoenhauser.de/filme-in-entwicklung/schaefchen-im-trockenen/

AUSSEN    –     GARTEN ‚K23‘     –     TAG

MATHILDA (8) lässt ein Körbchen an einer Schnur von ihrem Balkon hinunter.

SOPHIE (8) nimmt unten die Zwölferpackung Mini-Magnums, die darin liegt, heraus und rennt damit zur Feuerschale.

MATHILDA
(kreischt vom Balkon)
Warte, Sophie! Ich verteile!

SCHON MAL GEHOBENEN SEX GEHABT?

Ekel und Überempfindlichkeiten würden Schriftsteller vor hohlen Routinen schützen, schrieb Walter Benjamin in "Linke Melancholie". Können Sie damit etwas anfangen?

Voll – um mal in Jugendsprache zu antworten. Aber sofort schließt sich (in meinem Hirn zumindest) die Frage an, wer sich die leisten kann. Diese Gefühle, die einen in ständiger Verletzbarkeit halten. Wer die sich vor allem sein ganzes Leben über bewahren kann, ohne daran zu zerbrechen. Ich glaube, dass Benjamin recht hat, dass Kästner sich nach dem, wovor er sich ekeln wollte, gleichzeitig gesehnt hat, und dass das seine Texte vielleicht zu Midcult hat werden lassen – um mal in Wissenschaftssprache zu verfallen. Aber er war halt auch ein Aufsteigerkind, er wollte sich das Bisschen Macht und Einfluss und Zigarre und Torte nicht sofort wieder kaputtmachen. Und hat dafür ganz bestimmt künstlerisch was dreingegeben. Allerdings fürchte ich, dass Benjamin auch so seine Blinden Flecken hatte. Identitätspolitisch gesprochen, hatten sie wohl echt krass unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen, und es wäre schön gewesen, wenn sie sich die gegenseitig erzählt und zugestanden hätten, in einem woken psychologischen Schreibzirkel etwa, immer donnerstags, um dann weiterzuleben und weiterzuschreiben und die Nazis zu besiegen.

THEORIE UND PRAXIS

Gastgeberin TV-Show, 2021/22, für Lola Randl und arte

https://www.arte.tv/de/videos/RC-023039/theorie-und-praxis/

Susanne

Drehbuch-Episode, 2021, für Jan Krüger und Schrammfilm

INNEN    –    SUBWAY-IMBISS    –    TAG

Susanne sitzt Theo gegenüber, der konzentriert sein Hühnchen-sandwich verspeist. Susanne isst nichts, beobachtet Theo beim Essen.

SUSANNE
Dass der Trainer so rumschreit, find ich
echt nicht okay.

THEO
Muss er doch.

SUSANNE
Aber er muss keine Ausdrücke verwenden.

THEO
Was soll er machen.
Wir sind halt einfach schlecht.

GUT SEIN ZU WEM

Lyrikübersetzung, 2020, in Allen Ginsberg – Lyrik, Blumenbar
https://www.aufbau-verlage.de/blumenbar/lyrik-poetry/978-3-351-05097-9

Sei gut zu deinem Ich das weint unterm
Moskauer Mond und versteck deine Glückshaare
unterm Regenmantel und in Wildlederjeans –
(Allen Ginsberg)

AUF DIE ART ENTKOMMST DU DEM NICHT

Anthologiebeitrag, 2021, in Tanja Raich – Das Paradies ist weiblich, Kein und Aber
https://keinundaber.ch/de/literary-work/das-paradies-ist-weiblich/

Was ich tun würde, wenn ich ich selbst wäre und meinem eigenen Auftrag folgen könnte – keine Ahnung. Diesen Text hier schreiben? Eher nicht. Der ist der Beweis, dass die Autorin nicht Herrin ihres eigenen Schreibens ist, da müsst ihr nur zum Anfang zurückkehren und auf euch wirken lassen, wie sie versucht, sich vor ihm zu drücken und um ihn herumzuargumentieren. Und doch sie hat den Auftrag angenommen, aus Angst. Hat sich ins herrschende Herrschaftssystem gefügt, hat ein bisschen was geschwafelt, sich das Nachdenken über das, worüber sie nicht nachdenken wollte, versüßt mit ein paar Überlegungen über ihr eigenes Leben und inwiefern das ungeliebte Thema sie wohl selbst betrifft. Doch am Ende hat sie sich eben gefügt und genau das getan, von dem sie meinte, dass es der Betrieb und die Öffentlichkeit und die Menschen, die sie kennen und lieben, von ihr erwarten.

WUNDERBAR GESCHRIEBEN

Essay, 2021, WOZ
https://www.woz.ch/-ba22

„Das Geheimnis ist, interessiert zu bleiben, statt interessant sein zu wollen.“ (Jane Fonda)

GRUNDLAGENFORSCHUNG

Erzählungssammlung, 2020, Verbrecher Verlag
https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/1032

Heiner hat gedacht, bei dem IQ würde aus mir bestimmt nicht noch eine psychotische Ex-Frau werden. Denn ich weiß, wie die Dinge laufen. Zum Beispiel bei Claudia! Natürlich hat sie sich verkalkuliert. Und aus Trotz dann trotzdem noch ein Zweites gekriegt.

PLASTIKTEILE

Anthologiebeitrag, 2020, für Christian Baron und Maria Barankow – Klasse und Kampf
https://www.ullstein-buchverlage.de/nc/buch/details/klasse-und-kampf-9783546100250.html

Dieser alberne Abstandshalter, den mir meine Aufstiegsbiografie beschert hat, taugt nichts, und wenn man mal ehrlich ist, haben solche Dinger noch nie was getaugt. Billige, orangefarbene Plastikteile, zu montieren hinten am Gepäckträger links. Halten nichts auf und erst recht niemanden ab, sind nichts als ein höflicher Hinweis. Klack!, klappen sie weg, sobald wer Stärkeres vorbeirauscht, der Tod zum Beispiel oder die Liebe.

LIECHTI LESEN

Essay, 2020, für Hannes Brühwiler und David Wegmüller

„Irgendwo zwischen dem nicht mehr aufschreibbar Privaten und der öffentlichen Stellungnahme liegt das sogenannt Persönliche, und in diesem Bereich versuche ich mich zu betätigen.“ (Peter Liechti)

FREDDIE UND DIE BÄNDIGUNG DES BÖSEN

Sie spielen Ball-im-Flug-Wegboxen am Beckenrand. Freddie ist zu ehrgeizig und macht einen Bauchklatscher. Seine Haut brennt, aber es geht ziemlich schnell wieder vorbei. Trotzdem mag er danach vom Dreier keinen Kopfsprung mehr machen: Das muss erst wehtun, wenn man dabei aus Versehen mit dem Bauch aufkommt. Er macht stattdessen Arschbombe, was auch gut ankommt beim Publikum. Am Po hat er seine Badehose, die ihn schützt.
Sich am Sprungturm anzustellen, macht allerdings auch ziemlich bald keinen Spaß mehr, es dauert noch länger als bei der Rutsche: Weil immer nur einer überhaupt auf die Leiter darf. Anscheinend ist irgendwann mal was wirklich Schlimmes passiert, und seitdem ist einer der Bademeister ausschließlich für den Sprungturm zuständig. Steht daneben, passt auf und pfeift.
Zum Glück treffen sie Yannick vom Fußball, der mit einem Freund aus seiner Schule da ist. Emil.
Zu viert kann man Reiterkampf spielen; zwei sind die Pferde, zwei sitzen auf deren Schultern und ringen, und wer zuerst ins Wasser kippt, hat verloren.
Dieser Emil ist ziemlich stark, aber zum Glück auch ziemlich nett. Macht keine unfairen Aktionen (zum Beispiel Tritte unter Wasser, wenn er das Pferd ist) und auch keine fiesen Sprüche (zum Beispiel: „Komm doch, du Pussy, ich rasier dich“, wenn er oben sitzt und der Kampf noch gar nicht begonnen hat). Sie wechseln durch, und Freddie siegt auf Emil gegen Mattis.

SCHÄFCHEN IM TROCKENEN

Roman, 2018, Verbrecher Verlag
https://www.verbrecherverlag.de/book/detail/941

Ulf sieht gequält aus. Ich erinnere mich plötzlich, dass er mit einer ganz ähnlichen Begründung wie Vera mit mir Schluss gemacht hat, damals, als wir zwanzig waren. Da meinte er, dass er als mein Partner die Welt durch meine Augen sehen müsse und er das bis hierher auch als inspirierend empfunden habe, nun aber neugierig sei auf seine eigenen Augen.
Mir schien das eine schöne und verständliche Art, Schluss zu machen, ich liebte ihn dafür. Obwohl damals auch schon mitschwang, dass vielleicht ein sanfterer, lustigerer Blick als meiner länger zu ertragen gewesen wäre, doch das war Spekulation, und Kritik war damals ja noch nicht so sehr in der Kritik wie heute, sondern erstrebenswert und, wie Ulf ja auch gesagt hatte, insprierend. Zumindest habe ich mich nur anfallartig dafür geschämt, ähnlich, als hätte er gesagt, er wolle mal eine mit größeren Brüsten, denn wer weiß, vielleicht schockt’s das ja. „Schockt’s“ war ein Ausdruck, den wir damals gebraucht haben.
Ich frage: „Glaubst du, das hätte’s geschockt?“

FÜRSORGE

Alles, was leicht aussieht, ist in Wirklichkeit das Ergebnis harter Arbeit.
Nadja drückt den Knopf der Stereoanlage, und schon erfüllt Musik den Raum. Ein Streichkonzert, schwerelose Töne, doch für den Geiger bedeuten sie blutige Fingerkuppen, verkürzte Halssehnen, Fehlstellungen der Wirbelsäule. Um bei der Aufnahme dieses Konzertes mitwirken zu dürfen, haben er und seine Lieben ein Leben voller Entbehrungen hinter sich. Die Mutter des kleinen Geigers musste sich anfangs das hilflose Gekratze des Bogens über die Saiten anhören, das Kind zum Üben zwingen, jeden Tag mindestens zwei Stunden lang. Gehasst wurde sie von dem Kind für ihre Strenge, bis der Hass dann in Dankbarkeit umschlug, weil Anerkennung von außen die inneren Qualen vergessen ließ.
Das ist das Stichwort: Vergessen! Dieser gnädige Mechanismus im menschlichen Gehirn – oder funktioniert es chemisch? Jedenfalls gibt es keine körperliche Erinnerung an den Schmerz, und falls es je etwas anderes im Leben gab als die Musik, ist das inzwischen vergessen, verdrängt von Orchesterfreizeiten, Auftritten, einem Preis bei ‚Jugend musiziert’, dem Schulterklopfen des Musiklehrers, den neidvollen Blicken der Mütter abgeschlagener Konkurrenten – Mütter, deren Kinder zuviel am Computer spielen. Nicht so der kleine Geiger! Der geht am Abend erfüllt von seinem Erfolg zu Bett und weiß am nächsten Tag schon beim Aufwachen, was er zu tun hat.

ERNA UND DIE DREI WAHRHEITEN

In der Schule angekommen, gehe ich zuerst aufs Klo, um die Strumpfhose, zu der Annette mich gezwungen hat, wieder auszuziehen. Erstens haben Ureinwohner keine Strumpfhosen, und zweitens gibt es keine Strumpfhosen, wo mir nicht nach zwei Schritten der Zwickel zwischen den Knien hängt. Das ist so unangenehm, und ich will ja nicht dauernd unter meinem Kleid die Strumpfhosenbeine wieder hochziehen. Annette hat gemeint, man kriege das Problem in den Griff, indem man eine zweite Unterhose über die Strumpfhose zöge, aber jetzt mal ehrlich: wenn das jemand sieht, kann ich die nächsten acht Wochen nicht mehr in die Schule gehen.

BODENTIEFE FENSTER

Hendrik: „Warum gehst du überhaupt zu diesen Kindergeburtstagen, sag‘s mir!“
Ich: „Weil wir eingeladen waren, ganz einfach.“
Er: „Stimmt doch nicht. Wer will, kann dazukommen, stand in Berits Mail.“
Ich: „Aber wenn man nicht kommt, dann wird das bemerkt.“
Er: „Na und?“
Ich: „Dann denkt Berit, dass ich sie nicht mag.“
Hendrik: „– –“
Ich: „Guck nicht so. Ich hab nichts gegen sie.“
Hendrik: „Aber gegen Finn.“
Ich: „Ja genau. Wer weiß, was Finn Bo tut, wenn ich nicht dabei bin.“
Er: „Da waren genug erwachsene Aufpasser im Garten.“
Ich: „Und du weißt doch, die machen‘s nur noch schlimmer.“
Hendrik lacht. Ich werde wütend.
Ich: „Ich weiß nicht, wie ich‘s machen soll! Bo ist noch zu klein, um sich da alleine durchzufinden!“
Hendrik: „Hör auf, Bo vorzuschieben. Du sagst gerade selbst, dass du‘s nicht besser weißt als er.“
Ich: „Wenn wir hier bei nichts mehr mitmachen, fliegen wir hier raus!“
Hendrik: „Quatsch. Das will ich erst mal sehen, wer uns rausschmeißt.“
Er hat recht. Es ist schwer zu ertragen, wie recht er dauernd hat.

AFRIKA

Drehbuch-Exposé, 2014, nach einer Idee von Franziska Petri

Kaikara ist begeistert angesichts der verbesserten Funkverbindungen im Camp. Endlich kann man wieder Musik aus dem Netz ziehen; er spielt Susanne verschiedene Songs vor, nötigt sie, mit ihm zu tanzen – Ohr an Ohr, mit nichts als seinem Handy zwischen ihnen. Er ist groß und kräftig, sein Bauch und seine Arme füllen das weiße T-Shirt vollständig aus; Susanne schmiegt sich an ihn, kneift ihn spielerisch in die Hüfte.
Auch Kaikara hat Kinder, zu Hause in Gulu, deren Fotos er Susanne zeigt. Warum sie keine Kinder habe, will er wissen, und als sie abwiegelt, meint er, dass die deutschen Frauen seltsam seien.
„Was soll das heißen: seltsam?“, fragt Susanne. „Vielleicht krieg ich ja demnächst eins.“
Bei ihrem nächsten nächtlichen Treffen benutzt Kaikara ein Kondom.
„Was ist“, fragt Susanne, „hab ich dir Angst gemacht?“
Kaikara schüttelt den Kopf. „Ihr denkt, ihr kriegt alles umsonst.“
„Wer ‚ihr‘?“
Sie sehen sich an. Kaikara sagt nichts mehr, doch mit Blicken messen sich noch eine Zeitlang, schließlich auch wieder mit Bewegungen.

SELBER SCHULD - KATAPULT

Theaterstück ab 6, 2011

Hofpause. Direktor Baltzer ist wieder wie immer, führt mit strenger Lehrermiene die Aufsicht. Marta und Emilia sitzen mit ihren Brotdosen auf dem Mäuerchen.

EMILIA
Ich krieg sowieso ’ne neue Mappe. Pferdefreunde!
Prinzessin Lillifee ist was für Babys.

MARTA
Oh Mann. Das dauert ein ganzes Jahr, bis Jonathan
wieder Geburtstag hat.

EMILIA
Na und? Ist doch bei jedem so. Er hat gesagt, ihm isses egal.

MARTA
Das sagt er doch nur, damit er nicht heulen muss vor der Klasse.
(hält Emilia die Brotdose hin)
Magst du’n Keks?

EMILIA
(geziert)
Danke nein. Ich mach Diät.

Emilia rutscht vom Mäuerchen und übt Spagat. Marta sieht nachdenklich auf ihren Bauch. Jasper und Jonathan kommen.

MARTA
(zu Jonathan)
Magst du’n Keks?

Jonathan sieht Marta misstrauisch an, nimmt dann einen, isst ihn appetitlos. Jasper drängt sich vor und nimmt eine ganze Handvoll.

MARTA
(vorsichtig zu Jonathan)
Ist dir das wirklich egal?

Jonathan kickt mit der Schuhspitze in den Boden, antwortet nicht.

JASPER
Ich zeig’s deinen Alten. Ich hol mein Geld,
kauf mir’n Monstertruck und mach das Haus von
deinen Eltern platt – BOOIIIING!

JONATHAN
Mann, hör doch auf, das geht doch gar nicht!

JASPER
(erstaunt)
Wieso?

JONATHAN
So’n Truck kostet viel mehr als dein blödes Taschengeld!
Und außerdem weiß ich dann auch nicht, wo ich wohnen soll.

JASPER
Bei denen würd ich eh nicht mehr wohnen.

EMILIA
(kokett aus dem Spagat)
Dann lieber im Heim, was?

JONATHAN
(den Tränen nahe)
Mann, sei doch still.
Lasst mich doch alle in Ruhe!

Jonathan rennt weg.

MARTA
Ihr seid echt fies.

EMILIA
Was denn? Wir könn’ doch nichts dafür.
Haben wir etwa die Party abgesagt?

MARTA
Ich geh ihn suchen.

EMILIA
(ruft Marta hinterher)
Der taucht schon wieder auf! Bis zur Hochzeit
ist alles wieder gut! An so was
ist nun wirklich noch keiner gestorben!

Marta lässt sich von Emilias Eltern-Weisheiten nicht aufhalten. Emilia sortiert mühsam ihre Beine in die Senkrechte und rennt Marta hinterher.

HORCHEN

Katja sieht Gernot beim Schlafen zu. Er liegt von ihr abgewandt auf der Seite, sein Rücken reflektiert das schwache Licht, das durch die Luke herein fällt. Katja darf sich ihm nicht nähern, muss sich zwingen, nur zu schauen, seinen Rücken nicht zu berühren. Sobald sie seine Haut spürt, will sie darunter verschwinden. Aber sie darf ihn auf keinen Fall wecken. Wenn sie ihn weckt, wird er böse werden. Sie muss schlafen. Und von ihm geweckt werden.
Vorsichtig dreht sie sich um. Es nützt nichts, das Zittern bleibt. Wird eher noch stärker; Katja schließt mühsam die Augen und horcht in sich hinein. Da ist nichts als das Vibrieren ihrer Zellen, ein summendes Verlangen von den Zehen bis hinauf in den Hals. Katja versucht, flach zu atmen.

Es ist die Luft in dieser Kammer, irgendein Zauber, der bewirkt, dass Gernot ihren Körper anzieht wie ein Magnet, ihre Zellen auf sich ausrichtet, die bisher wirr um sich selbst trudelten. Wenn sie neben ihm liegt, sind sie bereit für den nächsten Einsatz, warten zitternd auf ein Signal.

Der Tag kommt, macht die Kammer erst grau und dann hell.

Katja drückt ihr Gesicht in das klumpige Kopfkissen. Zählt leise an.

Eins zwei drei. Bei vier ist es vorbei.

Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie gehört jetzt Gernot.

GLÜCKLICHE FÜGUNG

Erzählungssammlung, 2004, S.Fischer
www.fischerverlage.de

„Lügst du oft?“, fragte Simone, als sie im Bett lagen. Sie hatte die Decke zwischen den Knien zusammengeknüllt und sah in Hannes’ alkoholverschleierte Augen.
„Ich glaube nicht“, sagte er und gähnte.
„Okay, wie oft?“, fragte Simone. „Heute abend zum Beispiel.“
„Was meinst du? Wann soll ich gelogen haben?“
„Keine Ahnung.“
Hannes gähnte wieder. „Sag, worauf du hinauswillst. Ich kann nicht mehr gut denken.“
„Irgendwas ist faul“, sagte Simone. „Und ich krieg’s raus. Glaub bloß nicht, dass ich das nicht rauskriege.“
Hannes sah sie an und lächelte. Ein schönes, breites Lächeln über dem frischrasierten Kinn. Seit Simone sich ganz zu Anfang beim Küssen wundgerieben hatte, rasierte er sich auch abends, egal, wie müde er war.
„Ist doch gutgegangen“, murmelte er. Dann fielen ihm die Augen zu.
Simone starrte weiter. Seine Wimpern waren dicht und dunkel, die Ohren standen ein bisschen ab. Er schlief ohne Pyjamajacke, sodass seine Schulter im Licht der Nachttischlampe schimmerte. Er war alles, was man sich nur wünschen konnte, und sie hatte ihn sich geschnappt und wohnte mit ihm in einem Haus auf dem Land, wo nicht mal die Nachbarn noch zum Fürchten waren. Bald, laut Berechnung schon Ende August, würde das Baby kommen; es würde die gleichen Wimpern haben wie er und noch weichere Haut. Sie war die Mutter, und die nächsten zwanzig Jahre ihres Lebens würden nicht sinnlos verstreichen, sondern gegliedert werden von Terminen, die das Kind vorgab: Laufenlernen, Einschulung, erste Regelblutung, Auszug. Sie und Hannes würden währenddessen alt werden, aber das würde unbemerkt geschehen, ganz natürlich und ohne Reue. Hannes und Simone. Helmut und Susanne. Charles und Diana. Elternpaare, TV-Romane. Das, wovon sie geträumt hatte.  

ABNORME STÜHLE

Prosareihe, 2002

Teil 4: Der Krieg

Ich habe Rita zwei Trockenpflaumen püriert und in den Gemüsebrei gegeben. Als Verdauungshilfe. Eklig ist das nicht, eher englisch. Pflaumensoße, Truthahnbraten und Kartoffelpürree zum Erntedankfest.

Manchmal würde ich gern in einer fremden Sprache zu meinem Kind sprechen. Es wirkt so authentisch, wenn andere das tun. Auf Deutsch klinge ich wie meine eigene Mutter, dieser Singsang, ich weiß nicht, wer ich bin.
Das Baby nimmt mich einfach so hin. Wenn es sich wundert, kann es das jedenfalls noch nicht sagen. Und sobald es sprechen kann, wundert es sich nicht mehr, da bin ich ziemlich sicher. Das geht erst später wieder los, und bis dahin hat es hoffentlich Taktgefühl gelernt.
Wenn Rita jetzt kackt, geht’s mir besser. Ihre Verdauung ist ganz und gar meine Schuld: Wegen dem, was ich ihr zu essen gebe, wann und wie warm und wie oft, und außerdem hat sie wahrscheinlich meine Darmstrukturen geerbt und meine Darmflora. Wenn sie sie von ihrem Vater geerbt hat, bin ich trotzdem schuld, ich hätte mich ja nicht mit ihm einlassen müssen.
Ja, so ist das. Ich frage meine Mutter, ob sie mich auch immer noch heimlich betrachtet und denkt: Das ist mein Werk. Nein, sagt sie, es lässt irgendwann nach. Wann genau, frage ich, aber sie kann sich nicht erinnern. Wahrscheinlich, wenn sie anfangen zu widersprechen und wegzulaufen und Dinge zu erzählen, auf die man selbst niemals gekommen wäre.
Ob die Mutter von George W. Bush sich seine Kriegsreden anschaut und dabei überlegt, dass sie das Ganze hätte verhindern können? Wenn sie ein bisschen besser auf seine Verdauung geachtet hätte? Ihm nicht immer so viel Pflaumensoße über den Truthahn gegossen hätte, wo er die doch gar nicht mag? Ihm einen anderen Vater ausgesucht hätte, einen sanften Folksänger zum Beispiel oder halbseitig gelähmten Ureinwohner?
Nein, sage ich und fürchte mich. Bloß kein kausales Denken, das über die Wirkung von Trockenpflaumen hinausgeht. Und auch da ist nichts bewiesen. Oder hat das Kind etwa inzwischen gekackt?

KOPIERTES SCHICKSAL

Diaschaureihe, 2000/01, für die Lancaster Let Show im Ilses Erika, Leipzig

NIMM MICH MIT

Roman, 2001, mit Robby Dannenberg, S.Fischer
www.fischerverlage.de

Er wachte auf und war sofort ganz wach, weil die fremde Frau neben ihm lag. Es war halb acht und zu früh für Sonntagmorgen. Sein Zimmer sah ungewohnt aus, daran war auch Sabina schuld. Es war ein Einzelzimmer, kein Doppelzimmer, und er hatte nichts daran gemacht, deshalb sollte ihm auch niemand eine Identifikation damit abverlangen. Alle Zimmer in den frisch sanierten Wohnungen sahen aus wie dieses, Rauhfaser, weiß, makelloses Kiefernlaminat und saubergefegte Fußbodenleiste. Es bedeutete nichts.

Wenn nicht jedes Stück Körper unter meiner Haut kribbeln würde vor Ungeduld, wäre Bernd bestimmt ein amüsanter Gesprächspartner. Er plaudert. Er kommt zum Quadratmeterpreis und darauf, wie lächerlich es ist, darüber zu reden. Aber er kann nicht anders als reden, und ich will ihm am liebsten die Hand auf den Mund legen und ohne Hand schnell etwas kaufen gehen, damit ich ihn danach mit Worten unterbrechen kann und nicht durch mein Desinteresse zu noch mehr neuen Themen führe. Vielleicht hat er Angst vor der Stille zwischen uns.

GISELA

Roman , 1999 , mit Robby Dannenberg, Ammann Verlag
de.wikipedia.org/wiki/Ammann_Verlag

Ich glaub nicht, dass Männer wirklich besser dran sind. Ich wär nicht gern’n Mann. Vielleicht gern ne andere Frau, aber kein Mann. Vielleicht, wenn ich einen kennen würde, der wirklich glücklich ist, aber ich hab langsam das Gefühl, dass sie’s sogar noch schlechter haben.
Zwar haben Männer die Macht und meistens mehr Geld und werden zu Hause versorgt, aber ich glaub, insgesamt sind sie ziemlich einsam. Ich weiß nicht, mit wem der Mirko reden kann, und ich weiß nicht, mit wem der Paul redet. Vor Freunden zählen nur große Sprüche und vor den Frauen der starke Max. Mit ihren Müttern reden sie auch nicht, damit hören sie spätestens auf, wenn sie zehn sind. Wo das alles hingeht, frag ich mich. Ich würde durchdrehn, wenn ich alles mit mir allein abmachen müsste. Das hab ich ja gemerkt in der Zeit, als ich mit niemandem über Paul hab reden können. Und die Männer, also die, die ich kenne, haben dauernd diesen Zustand. Von wo sie zehn sind bis an ihr Lebensende, und egal, was passiert.

Gisela war nie ne Frau, die von irgendwo einfach abhauen konnte, und deshalb konnt ich sie auch von vornherein nur ficken und dann wegschicken, mal abgesehen davon, dass sie nun wirklich nicht die Frau des Jahres war. Aber dafür hat sie geil gefickt, und das werd ich ihr nie vergessen, bis ich tot bin bestimmt nicht. Und es ist gut, wenn ein Mann geile Erinnerungen hat, weil jeder irgendwann allein ist, und wenn es nur mal ne Woche im Krankenhaus ist, und wenn er es sich dann macht, dann ist seine Hand diese Erinnerung oder so, und das ist eine gute Sache. Gisela ist nie richtig abgehauen von ihrem Macker und auch nicht von ihren Alten, und vielleicht auch nicht von mir.

RÜCKSICHTSLOSES GETUSCHEL

Diaschau
1999
mit Fanni Halmburger

GRAUSAME CHRONIK

Prosareihe, 1997

Wir sagen vier zu vier, aber in Wahrheit steht es eins zu sieben.
Chronik ist gut, aber hat irgend jemand ernsthaft darüber nachgedacht, was es bedeutet, das alles Schwarz auf Weiß zu haben?
Es ist gut, in Rätseln zu sprechen. Es ist gut, Bescheid zu wissen. Niemand soll sich später darauf herausreden können, nicht dabeigewesen zu sein.

Einer von uns, ich sag jetzt nicht wer, hat vor zwei Jahren im Café Schwarzsauer gesagt, dass er genug hat von der Autobiografie-Scheiße. Nicht im Sinne davon, dass er sie nicht länger aushält, sondern in dem Sinn, dass er sie nicht mehr braucht. Er ist drüber hinweg. Macht jetzt andere Sachen.
Das ist wahr. Wir haben ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen, außer ab und zu auf der Bühne. Hinterher in den Aufführungsgesprächen konnten dann auch einige von uns nicht mehr folgen, ich zum Beispiel. Ich hab mich geschämt, aber da waren ja noch andere.
Im Podewil in Berlin findet jedes Jahr ein Festival statt, Reich und Berühmt. Der Titel ist ironisch gemeint, aber es ist doch sehr wichtig, wer dort ist. Man sitzt auf abgeschabten Couches und trinkt Beck's aus der Flasche; diejenigen, die Gage kriegen, bestellen italienisches Essen und kennen den Wirt mit Namen. Manche von uns kriegen schon seit Jahren Gage, manche manchmal ein bisschen, und manche kommen nur zu den Aufführungen und wissen nicht genau, wo die Toiletten sind.
Der jedenfalls, der gesagt hat, dass er die Autobiografie nicht mehr braucht, hat einige von uns so verunsichert, dass sie Lyriker geworden sind oder angefangen haben, ein Instrument zu lernen. Oder jeden Tag zu Mango in die Schönhauser Allee Arkaden fahren, um sich durchsichtige Blusen zu kaufen.